Catalogue
Preface
Marc, Franz: Vorwort, p. 3
"Die isolierte Stellung des echten Künstlers im Volke ist heute eine naturgeschichtliche Notwendigkeit. Nichts kann zufällig und ohne organischen Grund geschehen. Wie töricht ist die Trauer über den Verlust des künstlerischen Zeitgefühls im neunzehnten Jahrhundert! Muß uns diese vielbeschrieene Tatsache nicht zu dem Gedanken leiten, daß wir heute an der Wende zweier langer Epochenstehen, ähnlich wie die Welt vor anderthalb Jahrtausende, als es auch eine kunst- und religionslose Übergangszeit gab, wo Großes und Altes starb und Neues, Ungeahntes an seine Stelle trat? Die Natur wir den Völkern nicht ohne große Absichten Religion und Kunst mutwillig gemordet haben. Wir leben der Überzeugung, die ersten Zeichen der Zeit schon verkünden zu können.
Die ersten Werke einer neuen Zeit sind unendlich schwer zu definieren. Wer kann klar sehen, auf was sie abzielen und was kommen wird? Die Tatsache allein, daß sie existieren und heute an vielen von einander unabhängigem Punkten entstehen und von innerlicher Wahrheit sind, läßt es uns zur Gewißheit werden, daß sie die ersten Zeichen der kommenden neuen Epoche sind, Feuerzeichen von Wegsuchenden.
Die Stunde ist selten- ist es kühn, auf die seltenen Zeichen der Zeit aufmerksam zu machen? Franz Marc.
Aus dem Buch: Der Blaue Reiter | Erschienen bei R. Piper und Cie | München“
Kandinsky, Vasilij: Über Kunstverstehen, p.4-15
"Zu großen Zeiten ist die geistige Atmosphäre von einem präzisen Wunsch, von einer bestimmten Notwendigkeit dermaßen erfüllt, daß man leicht zum Propheten werden kann. So sind überhaupt die Wendungsperiode die Zeiten, in denen die innere Reife dem geistigen Pendel unsichtbar einen unüberwindlichen Stoß gibt.
Das ist der Pendel, welcher demselben oberflächlichen Auge als ein immer an derselben Stelle hin und her wackelnder Gegenstand erscheint.
Er steigt diesen gesetzmäßigen Berg auf. Bleibt einen Augenblick, einen unaussprechlich kurzen Augenblick des Stillstandes kann jeder leicht die neue Richtung prophezeien.
Es ist nur merkwürdig, fast unerklärlich, daß „die große Menge„ diesem „Propheten“ nicht glaubt.
Alle „Präzise“, Analytische, Scharfkantige, Hartbestimmende, im Harten Gesetzliche, das durch Jahrhunderte ging und im neunzehnten Jahrhundert allumfassend uns heute zum Entsetzen sich „entwickelt“ hat, ist heute „plötzlich“ so fremd. So abgeschlossen, und wie es manchem heute scheint „unnötig“ geworden, daß man sich beinahe mit Gewalt den Gedanken, die Erinnerung aufzwingen muß: „es war erst gestern“. Und… „ in mir sind noch manche Überreste dieser Zeit zu finden.“ Diesen letzten Gedanken glaubt jeder von uns eben-sowenig, wie den uns persönlich bevorstehenden Tod. Aber auch das Wissen ist hier nicht leicht.
Ich glaube nicht, daß es heute einen einzigen Kritiker gibt, der nicht weiß, daß „ der Impressionismus aus ist“. Manche wissen auch, daß er natürliche Abschluß des naturellen Wollens in der Kunst6 war.
Es scheint, daß auch die äußeren Ereignisse die „verlorene Zeit“ nachholen wollen.
„Die Entwicklung“ spielt sich mit einer in Verzweiflung bringenden Geschwindigkeit ab.
Vor drei Jahren wurde jenes neue Bild vom großen Publikum, vom Kunstkenner, vom Kunstfreund, von Kunstkritiker beschimpft.
Heute… wer redet heute von Kubus, von Flächeneinteilung von Farbenzusammenstellung, von Vertikalen, von Rhythmus.
Und das ist das, was in Verzweiflung bringt.
Einfach gesagt: es ist eine Sache der Unmöglichkeit, daß alle diese Worte mit Verstand angewendet werden. Es ist nur ein Mundspülen mit Worten, die modern angefärbt sind.
Man „Sauve les apparances“. Man hat Angst, dumm zu erscheinen. Und ist!
Kurz gesagt: es gibt kein böseres Übel wie Kunstverstand. Aus der dunklen Ahnung dieses Übels hat der Künstler von je her Angst gehabt, seine zu „erklären“, schließlich überhaupt über seine Werke zu reden. Mancher denkt sogar, daß er sich durch Erklärungen erniedrigen könnte. Am wenigsten möchte ich ihm von seiner Höhe herunterziehen. Zwei altergraue und ewig junge Gesetze beherrschen die geistige Welt:
1. Die Angst vor dem Neuen, der Haß gegen das Nichterlebte.
2. Die hastige Neigung diesem Neuen, Nichterlebten eine das Leben tötende Etiquette anzuhängen.
Der Böse freut sich. Er lacht, da diese Gesetze die schönsten Blüten seines überlriechenden Gartens sind.
Haß und leerer Schall! Alte treue Begleiter des Starken und Notwendigen.
Haß ist der Mörder.
Leerer Schall ist der Totengräber.
Es gibt aber Auferstehung.
In unserem Falle ist Auferstehung das Nichtverstehen der Kunst.
Es mag noch heute diese Behauptung als Paradox klingen.
Es kommt schon die Zeit, zu der sich dieses Paradoxe ins Richtige und Unvermeidlichklare umartet.
Die Erklärung oder das Versteheinmachen der Kunst kann zwei Folgen haben:
1 Es werden durch Worte und deren geistige Wirkung neue Vorstellungen erweckt und
2 was die mögliche und willkommenere Folge der ersten ist, es werden seelische Kräfte durch die obere Wirkung entfesselt, die sich aus dem gegebenen Werk wird erlebt.
Es gibt zwei Arten Menschen: die eine begnügt sich mit dem inneren Erleben der Tatsache (also auch der inneren Tatsache und darunter des gegebenes Werkes); die andere sucht sich dieses Erlebte zu definieren.
Uns ist hier aber nur das Erleben wichtig, da das Definieren ohne vorhergehendes Erlebnis nicht möglich ist.
Jedenfalls diese eben erwähnten zwei Folgen sind die schönen Resultate der Erklärung.
Diese zwei Folgen sind, wie alles Lebendige, zur weiteren Entwickelung fähig, indem sie durch die erweckten Vorstellungen, schöpferischen Kräfte und daraus fließendes Miterleben die Seele bereichern und sie dadurch zu Weiterem führen.
Dieselbe Erklärung kann aber auch andere Folgen haben:
1. Es werden durch die Worte keine Vorstellungen erweckt, sondern es werden durch sie lediglich die kranken Seiten der Seele besänftigt: man sagt „ auch weiß es jetzt“ und man brüstet sich damit.
2. was die mögliche und unwillkommene Folge der ersten ist, es werden keine seelischen Kräfte durch diese Worte erweckt, sondern an Stelle des lebendiges Werkes wird das tote Wort ( die Etiquette) gestellt.
So ist es klar, daß die Erklärung selbst als solche dem Kunstwerk nicht näher bringen kann. Das Kunstwerk ist durch die Form redende, sich offenbarende und weiter befruchtende Geist. Man kann also die Form erklären, klar machen, welche Form und aus welchem Gründen sie in einem Werk angerendet wurde. Was den Geist zu hören noch lange nicht fähig macht. Ebenso wie es leicht zu erklären ist, aus welchen chemischen Substanzen eine Speise besteht: die Substanzen wird man kennen, den Geschmack der Speise nicht.
Und der Hunger bleibt ungestillt.
So ist es klar, daß die Erklärungen der Kunst nur indirekt wirken können und deshalb zweiseitig sind und dadurch auf zwei Bahnen weisen: die des Lebens und die des Todes.
So ist es klar, daß der reine Wille auch durch Liebe verklärter Wille gegenüber steht.
Also soll man nicht durch Vernunft und Verstand sich der Kunst nähern, sondern durch Seele und Erleben.
Vernunft und Verstand sind in der Vorratskammer des fein haushaltenden Künstlers zu treffen, da er alle Mittel zum Zweck haben muß.
Und der, für den das Werk geschaffen wurde, soll seine Seele weit öffnen und dadurch erleben. Dann wird er auch glücklich.
Aus der Zeitschrift: Der Sturm | Herausgeber: Herwarth Walden | Berlin W 9"
Catalogue Structure
Marc, Franz: "Vorwort" p. 3
Kandinsky, Vasilij: "Über Kunstverstehen" p.4-15
Additional Information
Traveling Exhibition
Note
Reproduction with no correspondance to an entry: "Albert Bloch: Harlekinade".
Additional Notes
Date information taken from:
nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:255-dtl-0000002831 This is probably the catalogue of a travelling exhibtion. Since the Zentralinstitut für Kunstgeschichte cites "1. bis 3. Tsd. d. Kat." als editions for the travelling exhibition.
An exhibition in Berlin in 1914/1915 is not confirmed. Hence the location should be: unknown.
Dates and locations of Der Blauer Reiter exhibitions organized by ''Der Sturm'':
27/04-05/1912, Bremen, Vereinigte Werkstätten für Kunst und Handwerk
07/1912, Hagen in Westfalen, Museum Folkwang
28/08-11/1912, Frankfurt a. M., Kunstsalon Marcel Goldschmidt und Cie.
14/09-10/1912, Hamburg, Kunstsäle Louis Bock & Sohn
02/1913, Amsterdam
03/1913, Prague (exhibition not confirmed)
06/1913, Lund (exhibition not confirmed)
06/1913, Temesvár, Künstlerhaus-Ausstellung Otto Lendeck
07-08/1913, Exhibitions in the Hungarian Province
09/1913, Königsberg i. Pr. (exhibition not confirmed)
1913, Barmen (exhibition not confirmed)
01/1914, Christiania, C. W. Blomquists Kunsthandel
14/02-09/03/1914 (or: 01/1914), Helsingfors, Salon Strindberg
03/1914, Stockholm (exhibition not confirmed)
04-05/1914, Trondheim, Trondhjems Kunstforening
13/06-20/06/1914, Göteborg, E. Olsens Konstsalong
See Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München:
[
https://www.zikg.eu/bibliothek/studienzentrum/pdf/kataloge-der-galerie-201eder-sturm201c/enders_ausstellungen-berlin_2017 Galerie Der Sturm - Ausstellungen in der Berliner Galerie]